Sterbebettvisionen
Sterbebettvisionen sind eng verwandt mit Nahtoderfahrungen, nur das in diesem Fall keine Rückkehr mehr erfolgt. Im einsetzenden Sterbeprozess, der Stunden, Tage oder gar Wochen dauern kann, löst sich der materielle Körper bereits vom Seelenkörper und es kommt sie irritierenden Erfahrungen sowohl für den Sterbenden als auch für die Angehörigen. Es kommt häufig vor, dass die Trennung der beiden Körper nicht kontinuirlich erfolgt sondern intermittierend in immer stärkeren Schüben, die zeitweise wieder in einen früheren Zustand zurückkehren, so dass der Sterbende nochmal mit Angehörigen, Ärzten oder Pflegepersonal kommunizieren und von diesen irritierenden Erfahrungen berichten kann. Diese Zustände ähneln meist den Out-of-Body-Erfahrungen bei Nahtoderfahrungen. Der folgende Bericht stammt von Ricardo Ojeda-Vera, einem Mediziner, der in einer Klinik an der Behandlung einer krebkranken Frau im Endstadium beteiligt war.
Nach meinem Medizinstudium in England, in den Jahren 1977/78 war ich Assistent des Chefarztes an einer damals bekannten Klinik am Tegernsee (Name dem Arbeitskreis bekannt). Diese Klinik hatte sich darauf spezialisiert Patienten mit Krebs in fortgeschrittenem Zustand zu behandeln. Diese Menschen sind natürlich nicht an den Tegernsee gekommen, weil die Landschaft dort so schön war, sondern weil wir durch unsere Erfahrung und Methoden vielen Patienten noch helfen konnten. Es gab aus Sicht der Schulmedizin viele Spontanremissionen (Spontanheilungen ohne medizinische Erklärung) in unserer Klinik. Aus unserer Sicht waren es natürlich keine unerklärliche Heilungen, sondern wir hatten unsere eigenen Methoden und Erfahrungen eine Apopthose (programmierter Zelltod) von Tumorzellen einzuleiten. Wir hatten viele Patienten aus der ganzen Welt in der Klinik behandelt.
Ich war als Assistent des Chefarztes für den koordinierten Ablauf der angeordneten Therapien verantwortlich. Es war eine sehr harte Arbeit, obwohl wir personell gut ausgestattet waren. Die Stressbelastung war enorm. Viele Patienten kamen zu uns in einem sehr schlimmen Zustand und brauchten sehr intensive medizinische Betreuung.
Privat wohnte ich in einem Appartement eines kleinen Haus in Rottach-Egern an der Weißach, das mir von der Klinik bereitgestellt wurde.
An einem Abend, nach der Arbeit in der Klinik, setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb einen Brief an meine Mutter in Caracas, natürlich in meiner Muttersprache Spanisch. Ich schrieb ihr von der Belastung der Arbeit, meiner Stimmungslage in diesem bis dahin fremden Land, und beschrieb ihr die Landschaft um den Tegernsee.
Am Tag danach war wie immer Visite, an jenem Tag zusammen mit dem Chefarzt. Ich hatte ihn durch alle Stationen zu begleiten, weil ich – wie gesagt – für die Koordination der Therapien verantwortlich war. Auf den Stationen kamen die jeweiligen Stationsärzte und die leitenden Krankenschwestern hinzu. So gingen wir an diesem Tag wie immer von Bett zu Bett und von Zimmer zu Zimmer.
In einem der Zimmer lag eine Frau, an deren Namen ich mich heute nach fast dreißig Jahren nicht mehr erinnern kann. Sie litt an einem Mamakarzinom mit Lungen, Leber und Knochenmetastasen. Wie immer stellte nur der Chefarzt die Fragen an die Patientin. Ich selbst sprach nicht mit ihr. Überhaupt hatte ich mit ihr seit ihrer Aufnahme wenig gesprochen.
Wir lasen gerade die Berichte und Laborwerte, als sie sich unvermittelt zu mir wandte und sagte: „Es war ein wunderschöner Brief, den sie gestern Abend geschrieben haben“. Zunächst verstand ich gar nicht was sie damit sagen wollte, erinnerte mich aber dann an den Brief an meine Mutter. Alle Anwesenden haben ihre Worte auch gehört und schauten mich überrascht an. Mir war diese Bemerkung sehr peinlich gewesen, denn die Ärzte und Krankenschwestern hätten denken können, ich zeigte meine privaten Briefe der Patientin. Ich fragte sie, was sie damit meinte und sie antwortete: „ Ja, den Brief den sie gestern ihrer Mutter geschrieben haben“. Meine Frage, wie sie denn davon wissen könne beantwortete sie nur dadurch, dass sie es eben ganz genau wisse. Ich wollte das Gespräch nicht vor den anderen fortsetzten und bedeutete ihr, ich käme nach der Visite noch einmal vorbei. Von einem Kollegen wurde ich danach noch angesprochen, was das denn für eine Geschichte mit dem Brief sei. Ich wusste es ja selbst nicht.
Etwa zwei Stunden später, nach der Visite, ging ich nochmals zu ihr mit der Frage, was sie denn vorher mit dem Brief gemeint hätte. Ihre Antwort war, dass sie aus dem Brief spüre, wie sehr ich meine Mutter möge und sie beschrieb mir detailgenau den Inhalt des Briefes. Auf meine erneute und immer dringendere Frage wie sie davon wissen könne, antwortete sie, sie hätte mich von oben, etwa von der Decke aus beobachtet. Ich hätte den Brief an einem Schreibtisch geschrieben und einen grünen Bademantel angehabt. Ob sie denn Spanisch könne, war meine nächste Frage. Sie sagte nein, gab aber den Inhalt des Briefes nochmals richtig wieder. Sie beschrieb mir meinen Kugelschreiber, die Anordnung der Papiere, den Schreibblock genau so, wie es tatsächlich auf meinem Schreibtisch aussah. Sie beschrieb mir sogar den römischen Stil meines Schreibtischstuhles und meine Kleidung richtig.
„Wie soll denn das möglich sein?“ war meine fast schon verzweifelte Frage. „Ich weiß es selber nicht, so was habe ich auch noch nie erlebt.“ war ihre Antwort. Ich konnte mir keinen Reim auf diese seltsame Geschichte machen und beendete schließlich das Gespräch.
Die Frau ist drei Tage später gestorben.
Warum sie mich „ausgesucht“ hatte ist mir nicht erklärlich. Alle bisherigen Gespräche mit ihr hatten sich nur auf wenige Worte beschränkt. Vielleicht hatte sie zu mir eine emotionale Bindung aufgebaut – das könnte sein. Von meiner Seite aus war das nicht der Fall, jedenfalls nicht vor dem Gespräch. Sie war eine Patientin von vielen gewesen. Es ist auch in Kliniken unüblich engere Bindungen an Patienten zuzulassen, weil man leicht in Gefahr kommt mitzuleiden und dabei seine Objektivität und Handlungsfähigkeit zu verlieren.
Mich hat diese Begebenheit später immer wieder beschäftigt, habe aber bis vor einem Jahr mit niemand darüber gesprochen. Mit Menschen im Endstadium hatte ich schon andere seltsame Erlebnisse gehabt. Ich konnte diesen Begebenheiten aber nicht weiter nachgehen, weil mein Lebensthema die Onkologie war, die mich damals vollständig ausfüllte. Die Erfahrung mit dieser Frau war das Beeindruckendste was ich erlebt hatte.
Ricardo Ojeda-Vera 2007