Dorothea Rau-Lempke
Dorothea
Rau-Lempke
Begleitung in den letzten Augenblicken des Lebens
Auszug aus Heft 51 der Flensburger Hefte.
Interview von Wolfgang Weirauch
Abdruck in dieser Website erfolgt mit einer Sondergenehmigung des Verlages.
Wir bedanken uns sehr für die Erlaubnis.
Dorothea Rau-Lembke, geb. 1960 in Wunsiedel, verheiratet, lebt in Bamberg. Studium der Literatur- und Kunstgeschichte, Philosophie, Theologie. Ausbildung in Psychologie. Freiberufliche Dozentin.
D. Rau-Lembke: Die Krankheit, die ich damals hatte, ist über längere Zeit entstanden, mit den verschiedensten Mitteln behandelt worden, und erst lange Jahre danach habe ich wirklich erfahren, was bei mir vorlag: nämlich ein Blinddarmdurchbruch nach vier Wochen Krankenhausaufenthalt, mit starker Beeinträchtigung anderer Organe. Wahrscheinlich hatte ich auch noch anderweitige Infektionen. Das Nah-Todeserlebnis hatte ich zwischen zwei chirurgischen Eingriffen, drei bis vier Tage nach der ersten großen Operation.
W.W. Ging es so weit, dass Sie klinisch tot waren?
D. Rau-Lembke: Nein, ganz so dramatisch war der Krankheitsprozess wahrscheinlich nicht. Es geschah nachts während meines Krankenhausaufenthaltes, und ich weiß nur, dass am Morgen danach Untertemperatur festgestellt wurde. Zwar kamen die Ärzte und Pflegerinnen alle herbeigeeilt und haben sich gewundert, aber während des Nah-Todeserlebnisses gab es an meinem Krankenbett keine Zeugen.
Am Nachmittag vorher hatte ich noch etliche Besucher, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Nur von meinem Vater weiß ich noch. Er hat wahrscheinlich gespürt, dass ich im Sterben lag. Mein Vater saß neben mir am Bett und hat richtig um mich gekämpft, innerlich gekämpft, dass ich weiterleben solle. Ich habe hinterher gesagt, dass diese Kraft von ihm —er ist evangelischer Theologe — mich am Leben gehalten hat bzw. mich wieder zurückgeholt hat. Aber das kann von mir auch eine subjektive Deutung sein.
WW: Hat Ihr Vater an Ihrem Bett gebetet?
D. Rau-Lembke: Ja, er hat nicht nur gebetet, sondern er hat zu seinem Gott geschrien.
Im Bett lag eine schneeweiße Tote
W.W.: Können Sie den Prozess schildern, als Sie übersinnlich erwachten?
D. Rau-Lembke: Vorher war ich so schwach, dass ich nicht mehr den Knopf des Telefons bedienen konnte, weil ich meinen Arm nicht mehr heben konnte. Ich kippte dann einfach weg. Ich wurde durch eine graue Decke zu einem Licht gezogen und sah von oben den „Krankenhausgalgen“ am Bett sowie jemanden in diesem Bett liegen. Diese Gestalt war schneeweiß und wie tot — und das war ich.
W.W. Wussten Sie sofort, dass dies Ihr Körper ist?
D. Rau-Lembke: Nicht im ersten Moment, aber schon nach kurzer Zeit war es mir klar. Diese Erkenntnis war furchtbar.
W.W.- Was ging gedanklich, bewusstseinsmäßig dabei in Ihnen vor?
D. Rau-Lembke: Vor allem ein Erschrecken darüber, wie ich aussehe. Das Gesicht war nämlich von der Krankheit gezeichnet. Ich war erschrocken darüber, dass in diesem Bett eine Tote liegt. Auf der anderen Seite war ich darüber erschrocken, dass es mich trotz des Leichnams im Bett immer noch gibt und ich mich so wahrnehmen konnte, wie dies damals geschah. Eigentlich war es eine Überforderung für mich. Trotzdem war es für das Gesamterleben nicht so wichtig wie das, was darauf folgte.
W.W.: Hatten Sie während dieses Out-of-body-Erlebnisses andere Wahrnehmungen? Haben Sie anders gehört oder gesehen als in Ihrem physischen Leib? Konnten Sie auch in andere Räume des Krankenhauses hineinschauen?
D. Rau-Lembke: Nein, im Nachbarzimmer war ich überhaupt nicht, denn eigentlich war ich nur ganz bei mir. Es war auch jenseits meines Interesses, denn ich war auch schon vorher ganz darauf eingerichtet, dass jetzt mein Sterbeprozess beginnt. Es ging um mich. Das Gehör hat sich nicht verändert, ich habe keine besonderen akustischen Wahrnehmungen gehabt, allerdings war mein Gefühl unglaublich gesteigert und angereichert. Ich war hellwach, allwissend, so als könnte ich alle mir bekannten Menschen perfekt ausleuchten und als würde ich von ihnen alles wissen. Es war auch so, als würde ich die gesamte Zukunft und Vergangenheit kennen, und zwar was mit der Welt und mit mir selbst geschehen ist und sich noch ereignen würde. Irgend etwas muss auch darunter gewesen sein, was mich entsetzlich erschreckt hat. Leider weiß ich nicht mehr, was das war, auch wenn es von meinem Gefühl her etwas mit der Welt zu tun hatte. Ich wusste es nur in diesem Moment, hinterher nicht mehr. Aber es war etwas ganz Schlimmes, Bedrohliches.
W.W. Hatten Sie auch das Tunnelerlebnis?
D. Rau-Lembke: Nein, aber es war mir, als würde ich nach oben durch eine graue Decke schweben. Möglicherweise ist, diese Art des Erlebens darin begründet, dass ich durch Kaiserschnitt geboren worden bin.
Begrüßung durch Verstorbene
W.W.: Was schloss sich in Ihrer Nah-Todeserfahrung an das Out-ofbody-Erlebnis an?
D. Rau-Lembke: Zunächst war es mir, als ob ich durch eine graue Decke hindurch in ein Lichtreich vorstoßen würde. Ich wurde in Richtung dieses Lichtes aus meinen Körper gezogen. Das allererste war eine liebevolle und herzliche Begrüßung durch verstorbene Menschen, die mir sehr wichtig waren. Vor allem waren das die Freundin, von der ich eben berichtet habe, sowie meine Großmutter väterlicherseits. Was mich im nachhinein sehr frappiert hat, ist, dass ich meine Großmutter gar nicht gekannt habe, da sie vor meiner Geburt verstorben war. Aber sie war da, um mich zu begrüßen. Die Kommunikation mit den Gestalten geschah ohne Worte, es war so, als wäre ein Gedanke der Gedanke aller. Alles war sehr harmonisch und lichtdurchflutet. Diese Begrüßung durch die Gestalten war sehr überwältigend, im Grunde war es ein Meer von Liebe. Das hat sich dann immer mehr gesteigert, die Gestalten rückten langsam in den Hintergrund, und von da ab ging es eigentlich nur noch um mich.
W.W.: Können Sie die Verstorbenen ein wenig beschreiben? Waren es Lichtgestalten?
D. Rau-Lembke: ja, man könnte sie als Lichtgestalten beschreiben, auch wenn unsere normalen Kategorien von Raum, Zeit, Farb- und Formgebung dafür nicht ausreichen. Wichtig war für mich, dass sie lichtdurchflutet waren, und dieses Licht war Liebe. Dieses Licht war auch Wissen. Es vermittelte mir, dass ich gestorben sei. Ich habe diese beiden ganz wichtigen Gestalten an ihrer Liebe zu mir erkannt. Diese unverwechselbare Beziehung hat sich bei mir wie durch ein Brennglas eingebrannt.
W.W.: Darf ich noch einmal wiederholen: Durch die Liebe dieser beiden Gestalten zu Ihnen haben Sie erkannt, dass es diese beiden Persönlichkeiten sind?
D. Rau-Lembke: ja.
W.W.: War es Ihnen auch vorher schon klar, dass der Mensch nach dem Tod weiterlebt, oder haben Sie solche Gedanken abgelehnt?
D. Rau-Lembke: Ich hatte es mir manchmal gewünscht, aber eigentlich hatte ich den ganzen Bereich des Todes verdrängt. Sterben müssen die anderen, nicht ich — so empfand ich damals. Ich habe den Tod immer verdrängt, obwohl ich in einem Pfarrhaus und neben einem Friedhof aufgewachsen bin. Heute muss ich sagen, dass ich ohne die Stütze dieser beiden Verstorbenen während meiner Nah-Todeserfahrung im Weltall verloren gewesen wäre. Ich wäre in ein schwarzes Loch, in ein Nichts gefallen. Aber dass die Begegnung mit den Verstorbenen mir Halt gegeben hat, war im nachhinein auch eine erschreckende bzw. frappierende Erfahrung, weil sie die blinden Flecken meines Weltbildes zerstört hat. Alles, was ich bisher gedacht und erlebt hatte, war durch dieses Erlebnis zerbrochen. Der Glaube an den persönlichen und den männlichen Gott war mir zerbrochen, denn das, was ich während meiner Nah-Todeserfahrung erlebt habe, war etwas Abstraktes, war etwas, was mit Ethik zu tun hat, aber nicht mit üblicher Moral. Vor meiner Nah-Todeserfahrung wusste ich auf fast alle Fragen eine Antwort, hinterher kaum noch auf eine. Und stark abgenommen hat sicherlich meine Angst vor dem Tod!
W.W.: Aber es war Ihnen klar, dass die Verstorbenen richtige geistige Lebewesen sind, die noch heute existieren?
D. Rau-Lembke: ja. Natürlich hatten sie eine andere Gestalt, sie waren nicht so wie wir in einem physischen Leib, trotzdem hatten sie eine unverwechselbare Gestalt. Sie waren die Personen, die unverwechselbar nur sie selbst sein konnten.
W.W.: Was haben die beiden zu Ihnen gesprochen, und wie ging die Kommunikation vor sich?
D. Rau-Lembke: Die Kommunikation erfolgte nonverbal. Sie haben sich mir gegenüber dahingehend geäußert, dass sie riesengroße Freude empfinden, mich in diesem Reich begrüßen zu dürfen. Faszinierend war auch die Art des Gespräches. Das war kein Herantasten oder Small Talk, sondern es war ein so inniges Gespräch, wie es hier auf der Erde höchstens in ganz intimen Beziehungen in seltenen Augenblicken vorkommt. Sie haben mir Freude und Willkommen vermittelt, Geborgenheit und unendlichen Trost gegeben.
W.W.: Wie war die Umgebung der Gestalten in diesem Lichtreich? Haben Sie paradiesische Landschaften wahrgenommen?
D. Rau-Lembke: Landschaften habe ich nicht gesehen, sondern nur eine unendliche Weite, eine schöne, lichte Weite. Ich erblickte zusätzlich sehr viele Gestalten, die auch alle freundlich und harmonisch wirkten, aber wichtig für mich waren eigentlich nur diese beiden. Diese Weite hat mir auch sehr gut getan, denn auch hier im irdischen Leben liebe ich die Wüste und jede andere Weite. Allerdings war mir klar, dass sich hinter diesen Gestalten noch ein viel größeres Licht befinden muss, und zwar ein sehr starkes, zugleich aber sehr mildes Licht, das ich eigentlich nicht beschreiben kann. Diese Art von Licht habe ich seitdem auch nie wieder gefunden.
W.W. Haben Sie, als Sie in der geistigen Welt waren, auch eine Art höllische Landschaft erlebt?
D. Rau-Lembke: Nein.
Das Lebenspanorama
W.W.: Wann trat das Erleben des Lebenspanoramas, des Lebensfilms, ein?
D. Rau-Lembke: Das trat nach der Erstbegegnung mit den beiden Verstorbenen ein. Es begann, als ich mich in meinem neuen Zustand ein wenig zurechtgefunden hatte. In diesem Panorama habe ich mein ganzes Leben erlebt. Bezeichnenderweise geschah dies unter einem ganz anderen, für mich ungewohnten Wertesystem. Besonders habe ich soziale Situationen erlebt, Vorfälle, bei denen ich anderen Übles angetan hatte. Normalerweise hätte ich mich für diese Vorfälle geschämt, aber in der Situation dieses Lebenspanoramas habe ich mich nicht geschämt, sondern ich habe mich selbst verstanden und mich liebevoll angenommen. Dann habe ich Situationen erlebt, in denen mir andere Übles angetan haben, und dadurch habe ich diese Menschen verstanden, und zwar besser und tiefer, als ich dazu jemals auf der Erde in der Lage gewesen wäre. Ich habe verstanden, warum diese Menschen mir verschiedenes angetan haben. Natürlich habe ich auch Glückssituationen erlebt. Aber ganz prägnant sind mir die Situationen bewusst geworden, in denen man sich gegenseitig Böses angetan hat.
W.W. Lief Ihr Leben rückwärts ab oder stand Ihr Leben in allen Situationen gleichzeitig vor Ihnen?
D. Rau-Lembke: Es war sehr geballt, aber die Tendenz war eher zurücklaufend. Ganz sicher bin ich mir allerdings nicht. Vielleicht konstruiere ich in der Erinnerung das Rückwärtslaufen nur, denn im Grunde war alles gleichzeitig.
W.W.: Standen Sie den Bildern gegenüber oder waren Sie mitten in dem jeweiligen Geschehen?
D. Rau-Lembke: Ich war in dem Geschehen drinnen und war gleichzeitig tief in jeder Person, so dass ich sie verstanden habe. Vor allem habe ich sie umfassender als vorher verstanden. Auch mich habe ich ganz neu verstanden. Und unser gegenseitiges Verhalten sah ich in einem ganz anderen Licht.
„Ich konnte die Geheimnisse aller Personen lüften”
W.W.: Dann sind Sie also innerlich in die jeweiligen Personen geschlüpft und haben in ihnen die Schmerzen empfunden, die Sie diesen Personen während des Lebens zugefügt haben?
D. Rau-Lembke: Erlebt habe ich die Schmerzen eigentlich nicht, aber ich wusste um sie. Ich wusste ganz klar um diese Schmerzen. Im nachhinein ist es auch faszinierend, dass ich mich während dieses Erlebnisses nicht geschämt habe, obwohl ich genau wusste, was ich anderen Übles zugefügt hatte. Ich habe mich in diesem Lebenspanorama nicht einmal verurteilt, denn das Verurteilen war durch Liebe und Wissen abgelöst worden.
W.W.: Sie haben also nie unmittelbar gespürt, was ein anderer an Gutem oder Schlechtem durch Sie erlebt hat?
D. Rau-Lembke: In dem Erlebnis selbst habe ich es nicht gespürt, aber es war mir so, als ob ich es vorher gespürt hätte. Im Grunde war alles gleichzeitig.
W.W.: Sie haben gesagt, dass Sie z.B. erkannt hätten, warum andere Ihnen etwas angetan haben. Wahrscheinlich konnten Sie in die subjektive Ursachenverkettung im Umfeld dieser anderen Personen hineinschauen. Können Sie dieses Moment noch ein wenig beschreiben?
D. Rau-Lembke: Mir war, als ob ich in die andere Person hineinschlüpfen, als ob ich plötzlich alle Geheimnisse dieser Person lüften könnte und das ganze Konglomerat an Motiven wüsste.
W.W.: So als wären Sie der andere Mensch selbst?
D. Rau-Lembke: Ja.
W.W.: Geschah dies gleichzeitig mit mehreren Personen oder nacheinander?
D. Rau-Lembke: Eigentlich geschah dies mit allen Personen gleichzeitig. Zwar ist man versucht, alles chronologisch zu erzählen, aber es ist im Grunde alles gleichzeitig passiert.
W.W. Wie haben Sie auf diese Phase Ihrer Nah-Todeserfahrung reagiert? War es ein Schock, erlebten Sie Gedanken der Erleichterung oder war es eine Art Aha-Erlebnis, weil Ihnen erstmals Ihre sozialen Beziehungen durchleuchtet wurden?
D. Rau-Lembke: Eigentlich war es sehr erhellend, auf jeden Fall eine Bereicherung. Im nachhinein könnte ich es als ein Aha-Erlebnis bewerten, aber während dieser Erfahrung war es das Erleben von eigener Liebesfähigkeit, um die ich vorher nicht wusste. Ich habe dabei Räume entdeckt— in mir und anderen gegenüber —, die ich vorher einfach nicht genutzt habe.
W.W.: Könnten Sie einmal ein Beispiel davon geben, wie Sie einer Person etwas angetan haben bzw. diese Ihnen, und was Sie während des Lebenspanoramas durch Ihren überschauenden Wissensblick verstanden haben?
D. Rau-Lembke: Ich hatte z.B. eine Beziehung zu einem Mann, die sehr problembehaftet war. Er war auch damals in einer sehr schwierigen Situation, aber ich hatte für ihn in manchen Punkten Unverständnis, obendrein auch einige Ansprüche. Während dieser Nah-Todeserfahrung habe ich verstanden, warum dieser Mann so ist, wie er ist, und habe auch Dinge wahrgenommen, die ich ihm hinterher auf den Kopf zusagen konnte und die alle stimmten. Das waren Bereiche, die ich vorher allerhöchstens ahnte, aber nicht genau kannte.
W.W.: Ging das Lebenspanorama bis zur Kindheit zurück?
D. Rau-Lembke: Ja, ich habe bis zu meiner Geburt alles gesehen.
W.W.: Über die Geburt hinweg haben Sie nichts geschaut?
D. Rau-Lembke: Konkret nicht. Aber etwas Wichtiges war noch die Liebe meiner Eltern zu mir, die in irgendeiner Form auch vorhanden war, allerdings nicht in einem konkreten Erlebnis. Es waren eher kleine Erlebnisse, die wahrscheinlich in die Zeit vor meiner Geburt hineinreichten. Ich habe plötzlich gespürt, dass meine Eltern mich gewollt haben, bevor es mich gab. Das stimmt auch damit überein, wie es wirklich war.
Die irdischen Werte verschwinden
W.W.: Kam während der Schau des Lebenspanoramas irgendeine Ihnen bekannte Person oder auch eine andere Gestalt auf Sie zu, um mit Ihnen gemeinsam das Lebenspanorama anzuschauen bzw. zu bewerten?
D. Rau-Lembke: Nein, dabei war ich ganz mutterseelenallein. Die Verstorbenen waren in diesem Moment zwar wohl noch anwesend, aber sie traten in den Hintergrund und waren nicht mehr so wichtig. Als Botschaft für die Zeit danach ist mir geblieben, wie wichtig die Begegnung mit Menschen ist, auch wie wichtig die Begegnung mit mir selbst ganz allein ist. Die Zeit, die ich mit mir selbst verbringe, ist ebenfalls eine ungeheuer kostbare. Diese beiden Themen waren auch bereits während des Lebenspanoramas deutlich und klar in meinem Bewusstsein.
W.W.: Gibt es noch etwas Wichtiges über dieses Lebenspanorama zu erzählen, was wir bisher noch nicht angesprochen haben?
D. Rau-Lembke: Im nachhinein hat es mich fasziniert, dass der Leistungsbereich und alles, was für mich vorher in diesem Sinne wichtig war, dort überhaupt keine Rolle mehr spielte. Auch Äußerlichkeiten oder Dinge, auf die man normalerweise achtet, hatten dort überhaupt keine Bedeutung mehr. Es ging wirklich um soziale und emotionale Qualitäten, um das Verstehenkönnen anderer Menschen, um Vergebung und darum, Macht aufgeben zu können. Darüber denke ich seither sehr oft nach, denn meine Erfahrung macht die Werte unserer Gesellschaft ziemlich mürbe.
Der Sog in das Licht
W.W.: Auf welche Weise verschwand das Lebenspanorama wieder?
D. Rau-Lembke: Es war damit abgeschlossen, dass das Licht immer wichtiger und dass der Sog, der von dem Licht ausging, immer stärker wurde. Ich hatte ganz starke Sehnsucht, diesem Sog nachzugeben und endlich in dieses Licht zu kommen, wohl wissend, dass es den Tod bedeutet. Meinen Tod!
W.W.: Können Sie die Qualitäten dieses Lichtes noch ein wenig beschreiben?
D. Rau-Lembke: Das ist sehr schwer. Es war ein sehr mildes und helles Licht, aber keine Helligkeit, die blendet. Es war auch ein sehr starkes Licht, aber in diesem Licht zu sein, bedeutete für mich totales Glück, umfassendes Wissen und Liebe für andere und zu mir selbst. Diesem Licht konnte man sich gänzlich übergeben, ich konnte von allem Bisherigen absehen, ohne dabei etwas zu verlieren, und es bedeutete für mich das Aufheben aller Gegensätze, letztlich ganz tiefes Glück, gemischt mit Freude. Dieses Licht hat für mich auch so etwas wie eine fremde Macht dargestellt. Ich hatte das Empfinden, dass ich dieses Licht sehr gut kenne und dass ich auch ein Stück von diesem Licht selbst bin. Aber als ich mich in diesem Licht befand, war da noch etwas, was über mich bestimmt hat.
W.W.: War das eine Wesenheit?
D. Rau-Lembke: Wenn ich das nur wüsste! Eigentlich habe ich es als etwas Abstraktes empfunden, obgleich es etwas sehr Machtvolles, Kraftvolles und Wissendes in sich barg. Seither habe ich in mir das Gefühl, dass ich eine Aufgabe im Leben zu bewältigen habe. Vorher hatte ich nach dem Motto gelebt-. Ich mache, was ich will, und alles bestimme ich. Aber diese
Lebenshaltung ist mir in dem Licht kräftig abhanden gekommen. Seitdem hat das Leben für mich Aufgabencharakter, und ich weiß, dass es irgend etwas gibt, was größer und stärker ist als ich. Das weiß ich, obwohl es vielleicht etwas schmerzhaft bzw. eine narzisstische Kränkung ist.
„Als bräuchte ich nie wieder eine Frage zu stellen“
W.W.: Sie sagten, dass sowohl in dem Licht als auch in Ihnen selbst eine Art Allwissen vorhanden war. Haben Sie noch etwas mehr über die geistige Welt bzw. den Bereich, in dem Sie sich befanden, erfahren?
D. Rau-Lembke: Es war so, als ob ich alles wissen würde und nie wieder eine Frage zu stellen bräuchte. Neugier und Fragehunger waren wie weggewischt. Es war so, als ob ich alles über den Fortgang der Welten, die Zeiten, über mich, auch über meine Zukunft wüsste. Und nur ein Ausschnitt davon — ich deutete es vorhin bereits an — war schlimm, und ich wollte ihn nicht mehr wissen, und ich weiß ihn auch nicht mehr. Das war das Dunkle aus der Zukunft. Im nachhinein hat es mir furchtbare Angst gemacht, so dass ich froh bin, es vergessen zu haben.
W.W.: Haben Sie auch eine konkrete Zukunftsschau auf Ihr persönliches Leben gehabt?
D. Rau-Lembke: Nein. Mir wurde nur die Botschaft vermittelt, dass ich liebesfähig sein müsse und an meiner Liebesfähigkeit arbeiten müsse. Das ist mir noch heute als Botschaft geblieben, so als wäre es mir mit einem Stempel auf das Rückgrat geprägt worden.
W.W.: Sind in diesem Lichtreich weitere Wesen aufgetaucht, die Sie klar identifiziert haben?
D. Rau-Lembke: Nein. Es waren sehr viele Gestalten dort, aber ich könnte von keiner bestimmten sprechen, außer den beiden anfangs erwähnten, meiner Freundin und meiner Großmutter. Im Grunde war ich ganz allein dort. Ich hatte auch keinen Begleiter.
W.W.: Was haben Sie in diesem Lichtreich noch erlebt?
D. Rau-Lembke: Die Aufhebung von Zeit, von Materie und Raum, und wichtig war auch die Aufhebung von Macht. Schön war zugleich die Harmonie. Unter allen Gestalten in dieser Atmosphäre herrschte eine unendliche Harmonie, allerdings keine lähmende, sondern eine vitalisierende. Obwohl ich mich mit allen Gestalten verständigen konnte und mich mit dem Licht austauschte, so machte ich doch die sehr wichtige Erfahrung, dass ich ich selbst blieb und eine Einheit war. Im nachhinein habe ich mir immer gewünscht, dass ich gerne noch konkretere Dinge erlebt hätte, z.B. einen Begleiter oder andere ganz konkrete Dinge. Mein ganzes Erleben war für mich doch eine sehr abstrakte Erfahrung. Deshalb waren auch abstrakte Themen und Motive vorrangig, z. B. Liebesfähigkeit, Toleranz, Freude, Schmerzfreiheit. Ganz stark war der Sog in das Licht hinein, und es war mir völlig klar, dass ich diesem Sog auch nachgeben wollte.
W.W.: Obwohl es Ihnen bewusst war, dass Sie sich endgültig von der Erde lösen würden, wenn Sie diesem Sog weiter nachgeben würden?
D. Rau-Lembke: Ja, es war mir vollkommen klar, dass ich dann wirklich tot sein würde.
W.W.: Haben Sie von der Erde überhaupt noch Wahrnehmungen gehabt, als Sie sich in diesem Lichtreich befanden?
D. Rau-Lembke: Als ich mich in dem Lichtreich befand, war die Erde so gut wie weg. Vielleicht hing noch etwas an mir wie ein schweres Gewicht, aber eigentlich war die Erde während dieser Erfahrung verschwunden. Die Erde spielte keine Rolle mehr.
Der Befehl aus dem Licht
W.W.: Auf welche Weise geschah die Umkehr? Hat Ihnen jemand gesagt, dass Sie zurück müssten?
D. Rau-Lembke: Ich war ja bereits im Licht und wollte dort bleiben, und wenn es nach mir gegangen wäre, dann wäre ich dort auch geblieben. Aber plötzlich kam aus dem Licht etwas wie ein Befehl: Du musst zurück!
W.W.: War das eine Stimme, oder wie wurde Ihnen dieser Befehl bewusst?
D. Rau-Lembke: Es war ganz bewusst in mir, wie vom Licht mitgeteilt. Ich wusste gleichzeitig, dass ich zurück musste. Mir wurde mitgeteilt, dass ich zurück ins Leben müsste, um noch einmal neu anzufangen.
W.W.: Haben Sie dagegen protestiert?
D. Rau-Lembke: Total! Ich habe mich richtig dagegengestemmt. Ich wollte nicht zurück.
W.W. Wurde der Befehl dann wiederholt?
D. Rau-Lembke: Ja, er wurde immer wieder wiederholt und wurde dabei zugleich immer stärker.
W.W.: Wurde der Befehl auch begründet?
D. Rau-Lembke: Vielleicht, aber ich weiß es nicht mehr. Ich wusste natürlich, was mich wieder auf der Erde erwarten würde, und das wollte ich vermeiden.
W.W.: Was wussten Sie dort von Ihrem irdischen Dasein?
D. Rau-Lembke: Dass ich wieder in die Mühle von Raum, Zeit und Materie komme und die furchtbaren Schmerzen meiner Krankheit aushalten müsste.
W.W.: Waren bei dem Rückzug zur Erde Ihre Großmutter und Ihre Freundin anwesend, oder waren Sie auch dort allein?
D. Rau-Lembke: Ich war ganz allein. Die Verstorbenen kamen gar nicht mehr, sie waren nur zu Beginn der Nah-Todeserfahrung bei mir. Im nachhinein möchte ich meinen, dass Sie mich zu meiner Orientierung empfangen haben.
„Ich war völlig überfordert,
wieder in meinem Körper zu sein“
W.W.: Bitte beschreiben Sie den Prozess des Abstiegs in Ihren Körper.
D. Rau-Lembke: Der Befehl, zur Erde zurückzukehren, wurde beständig stärker. Ich wehrte mich zwar dagegen, konnte aber überhaupt nichts dagegen ausrichten. Eigentlich ging dieser Abstieg ganz schnell. Es war eine Kraft, die mich von dem Licht wegschob. Zu Beginn meiner Nah-Todeserfahrung wurde ich ins Licht hineingezogen. Nun wurde ich zurückgeschoben. Es ist mir liebevoll beigebracht worden, war aber doch kraftvoll und bestimmt. Ich kam dann einfach wieder in meinem Körper zu mir, spürte, dass ich in dem Krankenhausbett lag und bemerkte natürlich als erstes meine wahnsinnigen Schmerzen. Und zwar waren dies keineswegs nur Schmerzen im Bauch, sondern zusätzlich noch Kälteschmerzen in den Beinen, so als wären mir die Beine erfroren. Um mich zu orientieren, habe ich als erstes versucht, ein bisschen die Füße zu bewegen, und dabei das Baumwollbettlaken gespürt. Seit dieser Zeit hasse ich Baumwolllaken.
Mein Vater war bis kurz vor meinem Nah-Todeserlebnis an meinem Krankenbett, und als ich zurückkam, war es mir, als wäre die Kraft oder das Gebet bzw. seine Liebe zu mir noch in der Ecke, wo er gesessen hatte. Zumindest hatte ich dieses Gefühl. Ich war völlig überfordert, wieder in meinem Körper zu sein. Ich machte meinem Vater sogar innerlich Vorwürfe, weil ich dachte, dass er daran schuld sei, daß ich wieder zurückgeholt worden bin.
W.W.: Haben Sie auch in irgendeiner Weise den Fall in Ihren physischen Körper erlebt, z.B. so wie man es manchmal im Traum erlebt, kurz bevor man aufwacht?
D. Rau-Lembke: Nein, es war eher ein sanftes Nach-unten-Gleiten, so als würde mich die Kraft bis nach unten in meinen Körper begleiten.
W.W.: Welche Spanne der irdischen Zeit waren Sie aus Ihrem Körper heraus?
D. Rau-Lembke: Das ist eine sehr schwere Frage, denn es können Stunden oder auch nur Minuten gewesen sein. Ich kann es nicht definitiv sagen. Es wird allerdings keine sehr große Zeitspanne gewesen sein, da die Nachtschwester hin und wieder reinschaute.
W.W.: Es hat also auf der Erde niemand mitbekommen, dass Sie aus Ihrem Körper herausgegangen sind?
D. Rau-Lembke: Nein, niemand. Man hat nur hinterher festgestellt, dass sich meine Werte total verschlechtert hatten und dass ich ganz starke Untertemperatur hatte. Ich habe es auch lange Zeit niemandem erzählt. Der erste, der es erfuhr, war mein Vater. Später dann eine Mitpatientin, die etwas Ähnliches erlebt hatte und kurz darauf verstarb.
W.W.: Aber für Sie war es unmittelbar klar, dass Sie eine wirkliche Erfahrung einer geistigen Welt erlebt hatten?
D. Rau-Lembke: Ja, gezweifelt habe ich nie. Es war mir ganz deutlich, dass dies kein Traum war.
W.W.: Es sprach durch sich selbst.
D. Rau-Lembke: Ja, und ich bedauere heute, dass ich nicht sofort mit mehreren Menschen darüber gesprochen habe. Denn heute weiß ich, dass sehr viel mehr Menschen diese Erfahrungen durchmachen, vor allem Patienten, und ich weiß auch, dass sogar einige vom medizinischen Personal davon Kenntnis haben. Es hätte mir damals auch sehr gut getan, überhaupt mit jemandem über mein Erlebnis zu sprechen.
W.W.: Vielleicht wäre Ihnen auch mehr in Erinnerung geblieben, wenn Sie es damals gleich mit einigen Menschen besprochen hätten?
D. Rau-Lembke: Das glaube ich nicht, denn ich habe seitdem jeden Tag daran gedacht. Ich habe es — wie gesagt — meinem Vater erzählt, später dann auch der Mutter meiner verstorbenen Freundin. Mein Vater war sehr erstaunt über mein Erlebnis, aber auch sehr verständnisvoll und offen. Er weiß eben aus seiner seelsorgerlichen Praxis, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist. Aber viel darüber sprechen wollte er nicht, er hat mich eher im Zuhören und Schweigen verstanden und ernst genommen. Und er empfand vor allem die Mitteilung über seine Mutter als Trost, denn sie ist damals unter furchtbaren Schmerzen an Krebs gestorben. Ich denke sehr viel über mein Erlebnis nach und kenne mittlerweile auch einige Menschen, die ein ähnliches Erlebnis durch einen Unfall erlebt haben. Ich vermute, dass mein Erlebnis ein wenig dadurch geschmälert wurde, dass ich vorher und nachher eine lange Krankheitsgeschichte hatte. Es war zwar ein sehr schönes Erlebnis, aber es war teuer erkauft.
Schöpfungsstaunen
W.W. Wie hat sich Ihr Leben durch dieses Erlebnis verändert?
D. Rau-Lembke: Das hat sich ungeheuer verändert! Vorher war ich ein sehr angepasster und leistungsorientierter Mensch, hinterher hatte ich das Gefühl, als wäre ich durch mein Erlebnis in das Weltall hinauskatapultiert worden und könnte nicht mehr auf der Erde landen. Ich hatte Jahre danach Sehnsucht nach diesem Licht, nach diesem Glück und dieser Liebe, empfand sogar Groll, weiterleben zu müssen. Leben bedeutete in der ersten Zeit für mich nur noch Arbeit und Anstrengung. Ich habe dann aber nach und nach entdeckt, dass ich Teile dieses Glücks, das ich während meiner Nah-Todeserfahrung erlebt habe, auch in meiner Arbeit mit Sterbenden erleben konnte und dass ich in dieser Arbeit Orientierung und Sicherheit an den Patienten und an seine Angehörigen weitergeben kann.
Ich sehe in dieser persönlichen Aufgabe auch ein Stück gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die ich wahrnehme. Damals habe ich begonnen, mich mehr und mehr denjenigen Menschen zuzuwenden, die an der Grenze des Todes stehen, und mache deswegen seit vielen Jahren Sterbe-und Trauerbegleitung. Dabei habe ich entdeckt, dass ich überhaupt keine Schwierigkeiten habe, mit Menschen, die ähnliches erlebt haben, in Kommunikation zu kommen.
Kurz gesagt: Ich habe mich von einem sehr ehrgeizigen Menschen zu einem sozialen entwickelt. Früher war es für mich wichtig, was Autoritäten sagen, und ich konnte in jeder Machthierarchie schnell ausloten, wer das Sagen hat und wie man vor ihm gut dasteht. Heute dagegen ist für mich das schwächste Glied in der Kette am wichtigsten. Das sind meist diejenigen Menschen, von denen ich am meisten lernen kann und die am meisten zu sagen haben.
Ganz stark habe ich etwas seit meiner Erfahrung in mir, was ich Schöpfungsstaunen nennen möchte. Wenn es morgens am Horizont dämmert und die Sonne aufgeht, so war das früher für mich nichts Besonderes, heute aber erschauere ich vor lauter Ehrfurcht vor dem, was dort jeden Tag geschieht. Ähnlich geht es mir, wenn ich eine Pflanze betrachte oder einen Menschen sehe, vor allem ein neugeborenes Kind. Dass dies alles gelingen kann, ist für mich immer noch wie ein Wunder. Ich weiß noch, wie es an den Tagen nach meiner Krankenhausentlassung war: Eine Frucht sehen, eine Blüte entdecken, den Duft riechen, den ganzen Busch betrachten, an dem sich viele Blüten befinden — alles das waren für mich Erfahrungen, die mir durch Mark und Bein gingen. Ich muss heute sogar aufpassen, dass ich nicht ständig über alles das, was lebt und sich bewegt, staune, denn dann käme ich nicht mehr zu meiner Arbeit.
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Auszug aus dem Artikel
„Begleitung in den letzten Augenblicken des Lebens“
Heft 51 der Flensburger Hefte.