Ina Rippl
Nahtoderfahrung
Eine Herausforderung für das Bewusstsein
Interview mit Ina Rippl auf dem YouTube-Kanal „Empirische Jenseitsforschung“ von Franz Dschulnigg
Interview mit Ina Rippl auf dem YouTube-Kanal von Maria Thom Teil 1
Interview 2024 mit Ina Rippl auf dem YouTube-Kanal von Maria Thom Teil 2
Einleitung
Abschiede und existentielle Veränderungen geschehen im lebendig-dahinplätschernden Leben. Sie sind ein Teil davon und gehören zu den Augenblicken, wo wir uns selbst und unserer Mitmenschen in besonderem Maß bewusst werden. Ich denke, dass jeder von uns schon solche Erfahrungen gemacht hat: Am Grabe eines geliebten Menschen stehend, beim Durchsehen der amtlichen Bekanntmachungen und bei den vielen Toten, von denen wir täglich in den Nachrichten erfahren. Immer bleibt ein Raum offen, eine Lücke, über die scheinbar keine Brücke führt, oft empfunden als Leere.
Das bunte Geflecht einer Beziehungsstruktur soll sich durch das Sterben auf ein schwarzes Band der Trauer verringern, wo doch so viel Liebe da war und da ist von beiden Seiten?
Hier fangen wir an zu spüren, wo der Anknüpfungspunkt ist: Tief in unserem Herzen, in unseren Gefühlen lebt die Liebe und Verbundenheit weiter. Kann es je eine Trennung geben, wenn wir achtsam mit uns selber umgehen? Lieben und schätzen wir die Spuren, die andere in unserem Herzen hinterlassen?
Seit ungefähr 40 Jahren gibt es Menschen wie mich, die ihre eigene Todeserfahrung gemacht haben und Dank der modernen Medizin wieder in das Leben im physischen Körper zurückgeholt wurden. Manche, nicht alle, berichten danach von einem Erlebnis, bei dem sie sich außerhalb ihres Körpers empfanden. Früher waren solche mystisch-anmutenden Erfahrungen nur in bestimmten Kreisen bekannt, denn die Einweihungsriten alter Kulturen hatten wohl die Aufgabe, den Schüler an die Todesschwelle zu führen… Was sie da erlebten, wurde in den unmittelbaren Zusammenhang mit Gott und der herrschenden Religion gebracht. Heute tragen die Medien die Berichte um die Welt, und verbinden damit die betroffenen Menschen kultur- und religionsübergreifend. Es gibt kaum noch jemanden, der nicht weiß, was Nahtoderfahrungen sind. Die Ärzte und das Pflegepersonal haben durch die Erfahrungsberichte gelernt, würdiger mit todkranken und schwerverletzten Patienten umzugehen. Sie werden sich bewusst, dass jene mit ihrem verstehenden Bewusstsein bei dem Eingriff dabei sein können…
Das Thema, das den geistlichen Lehrern, den Religionen und Kirchen vorbehalten war, wird heute also von den Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten besprochen und auch wissenschaftlich untersucht.
„Beweisen Nahtoderfahrungen ein Leben nach dem Tod?“, solche und andere Fragen werden diskutiert. Vor allem wird das prägende Erlebnis, das manchmal stark, doch oft auch unaufdringlich, lieblich und zart im Bewusstsein aufleuchtet, von allen Seiten angezweifelt.
Nach meinem schweren Reitunfall vor 22 Jahren begann ich mein Leben noch einmal ganz von vorne. Das erlebte ich so. Es fühlte sich an, wie der erste strahlende Sonnenaufgang vor blauem Himmel nach einer Zeitspanne grauen Nebels: Zu gehen, zu sehen, zu riechen, zu schmecken und zu lachen, anderen Menschen zu begegnen hatte plötzlich eine ganz andere Intensität… Bis ich dieses neue Erleben ganz integrieren und genießen konnte, musste ich viele Hürden überwinden, Mauern niederreißen, mit den ärgsten Selbstzweifeln klarkommen und in tiefe Angstbilder eintauchen, als Folge meines veränderten Bewusstseinshorizontes. Mir war zuerst unbekannt, dass es viele Menschen gibt, die so etwas erleben. Bis im vierten Jahr nach dem Unfall wusste ich nichts von Nahtoderfahrungen. Auf meinem Weg bis heute hatte ich die Ehre, viele der „Erfahrenen“ kennen zu lernen und weiß: die Echtheit einer Nahtoderfahrung kann man an den Lebensveränderungen messen, die der Betroffene danach vornimmt. Und diese Veränderungen kann man nur bemerken, wenn man sich von dessen Lebensgeschichte wirklich berühren lässt.
Mit meinem sehr persönlichen Beitrag möchte ich Euch dazu einladen, mich ein Stück auf meinem aufregenden Weg zu begleiten.
Weitergehen als Jugendliche mit Nahtoderfahrung
„Eine kleinere Anzahl von Menschen wird durch eigene Erfahrung nacherleben, was Saulus bei Damaskus zum Paulus umwandelte … Wer an Steigerung der menschlichen Fähigkeiten glaubt, wird dies verstehen.“ Rudolf Steiner (1910)
Als Saulus vor Damaskus vom Pferd stürzte, wurde er zu Paulus und veränderte sein Leben grundlegend. Rudolf Steiner wies am Anfang des 20. Jahrhunderts darauf hin, dass sich solche Erfahrungen um den Jahrtausendwechsel häufen werden. Die Menschen verändern sich, ihr Körper-Seele-Geist-Zusammenspiel, die Konstitution, wird durchlässiger. Und das passiert weltweit, religionsübergreifend.
Seit Jahren beschäftige ich mich mit diesem Thema und staune immer wieder, wie oft eine Todesnähe-Erfahrung gemacht wird. Manchmal sind die Betroffenen lange unverstanden, verspottet und einsam mit ihrem Erlebnis, so dass sie am Ende versuchen, es nicht so ernst zu nehmen… Es scheint, als habe die Erfahrung dessen, was am Ende unserer körperlichen Lebenszeit steht, in dem materiell-orientierten Alltagsbewusstsein unserer westlichen Zivilisation keinen Platz. Den Tod behandeln wir besonders zu wirtschaftlichen Zwecken in der Unterhaltungsbranche – wenn ein nahestehender Mensch stirbt, sind wir jedoch oft überfordert mit den Gefühlen und Fragen, die über die Grenze des Sichtbaren hinausgehen. Da wir jetzt und hier leben, wachsen wir in einer Gesellschaft auf, die sich sehr und manchmal ausschließlich mit dem Diesseits beschäftigt. Es geht im Alltag weniger darum, habe ich den Eindruck, das Sterben als einen besonderen Moment des ganzen Seins zu verstehen…
Wie auch viele andere habe ich erlebt, was es bedeutet, mit dem Bewusstsein für wenige Augenblicke der Erdenzeit aus diesem Rahmen auszusteigen und einen Blick ins Jenseits zu werfen. – Plötzlich ist alles anders. Der „Rückweg“ zum irdischen Bewusstsein gestaltete sich bei mir sehr auffällig. Das heißt, ich erlebte sehr intensiv, was es bedeutet, als Geistseele in einem Körper „zu wohnen“. Es ist und bleibt ein Geheimnis, ein Mysterium…
Meine Geschichte klingt verblüffend, man könnte glauben, sie sei ausgedacht. Doch ich möchte hier hervorheben, alles nach meinem derzeitigen besten Wissen und Gewissen wiedergegeben zu haben. Es fiel mir nicht leicht, für alles den rechten Ausdruck zu finden, und es kann vielleicht vorkommen, dass ich im Laufe der Zeit manche Situationen anders beschreiben würde: Meine Nah-Todeserfahrung ist für mich ein Weg, sie ist Geschenk und Bürde zugleich, sie ist jeden Tag in meinem Leben präsent, doch existieren die verschiedenen Bewusstseinszustände für viele Menschen nicht… sie ist für mich alles und für andere nichts… Mit meinem persönlichen Erlebnis möchte ich etwas beitragen zu einem Erfahrungsbereich, der immer weiter in unser Tagesbewusstsein dringt.
Vorgeschichte
Mit gerade 16 Jahren, beim ersten Ausritt nach einer gerade überstandenen Gehirnerschütterung(bereits der dritten!), ging ich mit meinem Pflegepferd an einem kalten Januarnachmittag ins Gelände. Außer dem Pferd mit dem Namen „Nobody“ begleitete mich niemand. Nobody kam alleine zurück. Es war schon dunkel, als mich eine Reiterin später fand, die gerade nach Hause fahren wollte. Bewusstlos lag ich auf dem unbeleuchteten Feldweg vor dem Stall. An den Sturz kann ich mich nicht mehr erinnern. Im Krankenhaus diagnostizierten sie zwei Gehirnblutungen. Diese wurde in den folgenden Tagen nach und nach vom Körper absorbiert. Nach fünf Tagen auf der Intensivstation, in denen ich medikamentös im Koma gehalten wurde, verlegten sie mich auf die normale Kinderstation, da die Lebensfunktionen stabil waren. Dort war ich noch 11 Tage im Koma, sprach und reagierte nicht und konnte meinen Körper kaum bewegen. Es war nicht sicher, in wie weit ich wieder selbständig leben könnte.
Koma
Geistig war ich in der Komazeit aktiv. Ich hatte sogar den Eindruck, als ich auf einer strahlend grünen Wiese zu Bewusstsein kam, mich noch nie vorher so lebendig gefühlt zu haben. Den Übergang in den anderen Bewusstseinszustand hatte ich nicht bewusst vollzogen. Es gab für mich keinen Unterschied im Erleben, nur dass alles irgendwie leichter ging und so viel tausendmal lichtvoller und liebevoller war. Wie einzelne Spotlights leuchteten geistige Erfahrungen in eher trübe Bewusstseinslagen hinein. Ja, und es gab „drüben“ auch richtige Entspannungspausen, in denen ich ganz abtauchte.
Die „andere Welt“ der NTE
Wichtiger, als die eher ungeordneten Erfahrungen scheint es mir, die Sphäre oder die andere Welt der NTE zu charakterisieren: Im Unterschied zu unserem irdischen Erleben und Handeln gab es in der anderen Dimension weder einen räumlichen Abstand noch eine zeitliche Abfolge. Alles war nebeneinander, ineinander, ohne Anfang, ohne Ende. Eine leichte, rhythmische und lichte Bewegung durchdrang alles. – Es herrschte eine unglaublich leichte Verständigung, denn jeder schien sowohl in sich, als auch im anderen zu leben. Die Abgrenzung oder Verfälschung des eigenen Wesens oder der eigenen Intentionen schien weder nötig noch möglich zu sein. In diesem Sinne war meine NTE eine direkte Wahrheits-Erfahrung.
Frage der Geschlechtlichkeit
In einem Zustand, in dem ich wie in einer Sphäre von blauer Unendlichkeit zu Bewusstsein kam, wurden meine irdischen Überzeugungen grundlegend in Frage gestellt. In diesem entfernten Raum oder Seelenzustand war ich reines Wesen bzw. Bewusstsein, ohne jegliche weltliche Festlegung (Geschlecht, Alter, Aussehen…). Ich sah mich nicht als Gestalt, und ich nahm auch kein anderes Wesen wahr… In diesem eher kühlen Zustand, den ich im Nachhinein der Zeit oder einem Moment auf der Intensivstation zuordne, drang die Frage in mein Bewusstsein, ob ich als Mann oder als Frau auf der Erde leben wolle. Das löste einen Konflikt in meiner Seele aus, der mir bis zu meinem 16. Lebensjahr nur sehr vage zu bewusst gewesen war: In der Familie, im Rollenspiel mit meinen zwei Schwestern, hatte ich immer den männlichen Part übernommen und fühlte mich, weil ich viel im Stall arbeitete und stark sein musste, eigentlich neutral. So war meine Entscheidung schnell und meinem Wunsch bzw. meiner inneren Einstellung entsprechend: ich wollte als Mann leben. Nach der Entscheidung herrschte wie eine zwiespältige Diskussionsstimmung in der blauen Klarheit. Scheinbar passte mein Wunsch nicht zu den Erfahrungen, die ich unbedingt noch erleben wollte… Einerseits erlebte ich deutlich, wie gleichberechtigt weibliche und männliche Erscheinungsform zur Verfügung stehen, doch andererseits war mein Bewusstseinshorizont in diesem Zustand viel zu klein, als dass ich die Entscheidung selber hätte treffen können. –
Lichtgestalten
Einmal war ich mit Lichtgestalten zusammen. In einer Reihe mit großen, schönen Lichtgestalten bewegte ich mich als kleineres Licht mit. Es mögen zwölf gewesen sein, denn es war eine vollständige Gruppe bzw. Runde. Wir alle waren im langsamen Vorwärtsschreiten, rhythmisch im Einklang, in vollkommener Harmonie. Ich fühlte mich wie an den Atem der höheren Wesen angeschlossen und war erfüllt von dem Gefühl heiliger Freude und innigster Gemeinschaft. Gemeinsam hatten wir das gleiche Ziel vor Augen. Wir schritten auf einen dunkleren Saal zu und wollten einem Sterbenden durch unsere harmonischen, strahlend nach oben geführten Gebärden den Weg in die geistige Welt erleichtern oder weisen. War ich der Sterbende oder jemand anderes? – Vielleicht habe ich hier meine Innere Entwicklung von außen gesehen, oder gespürt, dass andere die Dimensionen wechseln – es sind für mich bis heute lebendige Fragen geblieben.
Das Licht der Liebesenergie
Wie ich in das Licht gelangte, weiß ich nicht mehr. Auf einmal war ich da, in einem unsagbar hellen Licht, das pulsierte und voller Energie war. Ich nahm Es als Licht wahr, doch hatte ich die Empfindung, zugleich alle Regenbogenfarben in ganz zartem Schimmer zu sehen. Ich befand mich auf einer unendlich erscheinenden, saftig- grünen Wiese, die ebenso glänzte. Als Erinnerung blieb mir vor allem diese Farbqualität. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl, sowie vollständiges Geborgensein, Angenommensein und Angekommensein erfüllten mich. Ich war von warmer, intensiver Liebe eingehüllt und fühlte mich rundherum wohl.
Mein Schöpfungsversuch
Es entstand wie eine Verdichtung der Energie und ich erlebte gleichzeitig in mir und doch wie von außen kommend den Aufruf:
„Sei kreativ! Erschaffe!! Zeige deine großartigste Schöpfung!!! “ –
Da merkte ich, dass jeder Gedanke vor mir auf der Wiese sichtbar wurde. Ich dachte Begriffe, häufte also Gegenstände vor mir an: Häuser, Gerätschaft, Möbel, Lebensmittel, zubereitete Speisen und konnte sie von allen Seiten beschauen. Als ich eine Pause machte, weil mir nichts mehr einfiel, war alles wieder verschwunden. Wie ein Urteil empfand ich den erneuten Aufruf, zu erschaffen. Ein Urteil, das bedeutete, dass meine „Produktion“ noch nicht das Wesentliche enthielt, dass etwas fehlte, dass noch etwas von mir erwartet wurde. Ich versuchte in vielen Anläufen, dem Aufruf gerecht zu werden, bis ich ermüdete. Erschöpft nahm ich zur Kenntnis, dass es ein ständiges Werden und Vergehen war, und nichts bestehen blieb. Die Fragen, die mir von diesem Erlebnis zurückblieben sind: Wie hätte ich denken, also erschaffen können? Gibt es eine Möglichkeit lebendig zu denken? Wie kann ich meinen Gedanken Leben geben? Habe ich meine Gedanken, meine Kreationen zu wenig geliebt, mich zu wenig mit ihnen verbunden? Warum fiel es mir so schwer, meine „Kreationen“ loszulassen?
OBE
Das OBE, Out-of-Body-Experience, das ich hatte, ordne ich gegen Ende des Komas ein: Ich sah das Zimmer der Kinderstation von oben: die Kinderbetten, meine Mutter von oben an meinem Bett sitzen und meine Gestalt (undeutlich). Ich fühlte mich kraftvoll und lebendig, doch hatte ich eine Anweisung, dass ich mich noch tot stellen müsste. Woher weiß ich nicht, und auch nicht, warum. Ich hatte großen Hunger. Meine Mutter, die sehr aufrecht und klar an meinem Bett saß, erlebte ich so, als würde sie mir heimlich Nahrung zu schmuggeln, da sie wusste, dass ich noch lebte. Ganz deutlich erlebte ich die Worte: „Deine Zeit ist noch nicht gekommen“, doch empfand ich es eher als Abbremsung. Es schien mir, als sollte ich meine Kraft und Kreativität zurückhalten… Tatsache war, dass ich nach diesem klaren Erleben den Kontakt zu meinem Körper wieder aufnahm. Eine Weile fühlte ich mich im Umkreis und Körper gleichzeitig: Ich erlebte das Krankenzimmer wie meinen eigenen „Körper“. Und als ich den Schmerz einer weinenden Mutter mitbekam, die als Begleitung bei ihrem todkranken Kind übernachtete, tat es mir überall körperlich weh.
Der Weg zurück in den Körper
Diese Schilderung lässt deutlich werden, in welcher Welt ich am Ende des Komas lebte: In einer Welt, wo es keine verfälschten, unwahren Haltungen gab, wo man ohne sich abgrenzen zu müssen mit dem Ganzen im Einklang war, und wo die Kommunikation telepathisch übertragen wurde. Ich befand mich in dem ewigen Jetzt, ohne zeitliche und räumliche Einbindung.
IRGENDWANN gab es den Bewusstseinsschritt vom „Über-mir- Schweben“ und „Um-mich-herum-Fühlen“ zum „Durch-die-Augen-von-Innen-Herausgucken“. Es war schon ein Willensakt; wunderbar und schmerzlich zugleich: Gewünscht, ersehnt und doch sehr schwierig. Ich fühlte mich schlagartig winzig klein. Meine Seele, mein weit ausgebreitetes Bewusstsein musste sich den irdischen Verhältnissen anpassen. Das Raumbewusstsein, die empfindungsmäßige Wahrnehmung des ganzen Raumes, musste ich sozusagen in zwei winzige Kanäle bündeln, um wieder konkret durch meine Augen „sehen“ zu können.
Ich war „unten“ angekommen und im Geiste war mir klar: Hier bin ich ein Säugling, ein kleines Baby. Meine Umgebung passte zu dieser Empfindung: Ich lag in einem Gitterbett, wurde erstaunt betrachtet, gewickelt, gefüttert und gepflegt, da meine Bewegungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt waren. Meine ganze rechte Körperhälfte war taub, bzw. gefühllos, was jede koordinierte Bewegung erschwerte und mich vorübergehend zu einem Linkshänder machte und mich sehr verunsicherte. Mein Bewusstsein unterschied weder zwischen Tag und Nacht, noch zwischen der inneren und äußeren Welt. Diese gingen ohne Trennung ineinander über. Ich handelte im tiefen Vertrauen auf die telepathische Verständigung, die ich nun gewohnt war, sprach nicht und wunderte mich, wenn meine Verwandten und das Pflegepersonal meinen Gedanken nicht entsprachen…
Dann fand ich meine Sprache wieder. Ein Kinderlied, das meine Schwester sang und in das ich freudig einstimmte, brachte mich wieder in Kontakt mit meiner Stimme.
Wir alle haben diese Erfahrung als Kinder gemacht: Dadurch, dass wir uns äußern, können wir erst eine Reaktion auf unsere Gedanken bekommen. Erst durch die Sprache können wir an der Gedankenwelt des anderen teilhaben… Ganz allmählich lernte ich die täglichen Notwendigkeiten wie waschen, anziehen, Zähne putzen sowie die üblichen Verständigungsformen wieder. Meine rechtsseitige Gefühllosigkeit blieb jedoch erhalten, so dass ich bis zu meiner Verlegung in die Filderklinik erst wenige Schritte ohne Hilfe gehen konnte. Auch meine Stimme war zu der Zeit noch nicht altersentsprechend entwickelt sondern erinnerte an frühkindliche Zeiten…
Ein Zeichen dafür, dass ich ein völlig neues Leben begonnen hatte war für mich, dass ich übermäßige Angst vor dieser unbekannten Situation hatte. „Verlegung“ bedeutete für mich das Ende meiner gewohnten Welt und war deshalb ungeheuerlich für mich. Ich hatte panische Angst davor, obwohl meine Mutter sich darauf freute.
Ein großer Bewusstseinsschritt vollzog sich, als ich dann in dem anderen Krankenhaus war, dessen Räumlichkeiten mir schon vor dem Unfall bekannt waren. Nun konnte ich langsam an die vorangegangenen Erfahrungen anknüpfen – sehr langsam.
Die wieder gefundene Lebensfreude
Es dauerte ein Jahr, bis auch mein kleiner Zeh wieder „fühlte“. Ebenso war es mit meinem Bewusstsein, das sich innerhalb von Monaten wieder vom Kleinkind- bis zum Teenie-Zustand und dann zur jungen Erwachsenen entwickelte. Es gab Phasen, in denen ich nicht glücklich darüber war, wieder „hier“ zu leben, besonders am Anfang. Es gab auch Zeiten, da wollte ich etwas anderes für wichtiger halten, als „das Licht“. Zeiten der Auflehnung, Zeiten der Verzweiflung und der flammenden Sehnsucht wechselten mit Momenten voll Frieden und Vertrauen, mit reflektierendem Verstehen.
Zusammenfassung
Wenn ich heute von dem Erlebnis erzähle, komme ich immer noch in einen ganz anderen Gefühls- und Bewusstseinszustand hinein. Die vier Bilder, Frage der Geschlechtlichkeit, Lichtgestalten, mein Schöpfungsversuch und das OBE, waren natürlich nicht die einzigen Eindrücke, die ich in dem anderen Bewusstseinszustand erlebte. Doch sie blieben am deutlichsten in meinem Gedächtnis zurück, und denkend konnte ich am meisten mit ihnen verbinden, als ich sie einige Monate später aufschrieb.
Wieder „auf der Erde“, im Leben, war ich deswegen oft verzweifelt. Vieles konnte ich lange nicht einordnen, vor allem die emotionalen Reaktionen, die scheinbar grundlos und heftig hervorbrachen, waren echt sehr anstrengend. Zum Beispiel konnte ich es sehr lange nicht verstehen, warum ich Frau geworden war; selbst als ich Kinder hatte. Wahrscheinlich hatte ich mich nie der untergründigen Sehnsucht, ein Mann sein zu wollen, gestellt. Denn als ich mir nach vielen Jahren die Zeit nahm, wurde sie in einer Nacht verwandelt. Alle Gefühle, die mit meinem „Frausein“ zu tun hatten, alle Schmerzen, die ich körperlich und seelisch dadurch erlebt hatte und auch die Ängste ließ ich heraufsteigen und schaute sie einfach an. An einem Morgen, einige Jahre nach meiner NTE, erwachte ich mit einem Panoramabild von meinem Leben, das sich „in wachsenden Ringen“ (Rainer Maria Rilke, s. u.) vor mir ausbreitete: Dieser Aspekt, eine Frau zu sein war einer der innersten Kreise, der die anderen erst ermöglichte.
Den Fragen zu meinem Schöpfungsversuch ging ich besonders im vierten Jahr nach der NTE nach. Sehr wichtige Menschen-Begegnungen und Bücher kamen zu der Zeit in mein Leben. Mit fast 20Jahren also, nahm ich an einem Workshop über „Ein neues lebendiges Denken für das nächste Jahrtausend“ teil: Das Thema entsprach genau meiner inneren Frage. Durch diesen Workshop und seinen Dozenten begann ich erst, meine Gefühle und die Erlebnisse in der Komazeit ernst zu nehmen. Erst ab diesem Zeitpunkt beschäftigte ich mich mit Erfahrungen in Todesnähe, was ich davor gefühlsmäßig gar nicht trennen konnte, weil alles Schritt um Schritt ineinander überging. Ich war bis zu diesem Seminar immer „mittendrin“ gewesen, und konnte nicht distanzieren und erkennen, was das eigentlich für mich bedeutete… Wenn ich nun zurückblicke fügt sich alles zusammen. Ich erkenne für mich einen Sinn in allen Einzelheiten. Fragen, die ich mir einmal stellte, begegnen mir wieder auf anderer Ebene oder finden ihre Antwort. Es ist ein wundervoller, aufregender Weg, den ich bis heute gehe.
Und jede Zeit, jede Geste, jede Begegnung ist ein Geschenk. Ich möchte ganz besonders den Menschen danken, die persönlich Anteil genommen haben an meinem Weg, den Ärzten und Pflegekräften, den Therapeuten, Lehrern und Mitschülern, den Freunden und Unterstützern.
Ich danke Euch von Herzen.
„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang. Rainer Maria Rilke“
© Ina Rippl-Rohmann. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdruckes und der Übersetzung vorbehalten. Verwendung in dieser Website mit der freundl. Genehmigung der Autorin