Alois Serwaty
Der Vortrag wurde gehalten auf der
Tagung der bischöflichen Akademie in Aachen
am 18.März 2006. „Durch den Tunnel: Nahtoderfahrung interdiziplinär betrachtet“ Verwendung in dieser Website mit der freundl. Genehmigung des Autors
Mein Nahtoderlebnis liegt nun 15 Jahre zurück. Ich war 43 Jahre alt. Ich musste mich damals nahezu von heute auf morgen einer Bypass-Operation unterziehen. Ich habe Familie, drei Kinder. Ich stand zu diesem Zeitpunkt mitten im Berufsleben und hatte eine herausfordernde Aufgabe (Anmerkung des Arbeitskreises Origenes: Alois Serwaty hat Bauingenieurwesen studiert, war Berufsoffizier bei der Bundeswehr und ist seit 2005 pensioniert).
Dies war natürlich ein Schock, für mich und auch für die Familie. Zwei Monate nach der Operation und einer Rehabilitation war ich wieder im Dienst. Ich wollte mir beweisen, dass ich noch leistungsfähig bin und meinen Mann stehe, in meinem Beruf als Offizier, als Familienvater, als Ehemann. Das Nahtoderlebnis trat jedoch nicht während der Bypass-Operation ein. Einige Monate nach der Operation musste ich mich erneut einem Eingriff am Herzen unterziehen, einer weiteren Herzkatheter-Untersuchung mit Ballondilatation. Die Abläufe waren mir vertraut; der Eingriff erfolgte nur bei örtlicher Betäubung der Einführstelle des Katheters in der Leiste. Ich betrachtete diesen Eingriff als Routineuntersuchung in der Erwartung auf ein wenig dramatisches Ergebnis. Ich hatte deshalb auch keine besonderen Vorkehrungen getroffen, sondern fuhr morgens in das Klinikum in W. in der Vorstellung, spätestens nach vier Tagen wieder entlassen zu sein. Freitags hatte ich ein wichtiges berufliches Vorhaben eingeplant. Ich vertraute auf die Ärzte und deren Professionalität.
Nach Vorbereitung begann der Eingriff routinemäßig am späten Nachmittag. Ich war voll bei Bewusstsein, verfolgte das Geschehen am Monitor und konnte mich mit dem medizinischen Personal, das den Eingriff durchführte, austauschen. Allerdings war mein Gesichtsfeld durch ein grünes Tuch, dass in Höhe meines Brustkorbes aufgespannt war, sehr eingeschränkt.
Völlig unerwartet verspürte ich während des Eingriffes jedoch eine bleierne Müdigkeit. Zunächst wehrte ich mich dagegen, ich wollte ja alles mitbekommen. Ich vermutete zunächst, dass die Ärzte mir ein Schlafmittel oder eine leichte Narkose verabreicht hätten, konnte mir dies aber nicht erklären. Ich verspürte keine Schmerzen. Dann kamen Befürchtungen auf, nun ist beim Eingriff doch etwas schief gelaufen.
Plötzlich verspürte ich mich außerhalb meines Körpers. Ich schwebte halbhoch im Operationssaal. Wie in einer Beobachterrolle verfolgte ich seltsam unbeteiligt, was mit meinen Körper dort unten passierte. Da war zunächst eine große Verwirrung in mir, da ich nicht wusste, was dies alles bedeutete. Dann ein Gefühl der Ruhe, des Friedens, ja des Glücks. Ich verspürte kein Bedürfnis, in meinen Körper zurückzukehren. Dennoch geschah dies wiederum sehr unerwartet, aber mit dem Gefühl einer großen Kraftanstrengung und ich nahm die Realität wieder so wahr, als wäre nichts geschehen. Mein Körper und mein Bewusstsein waren wiederum eins.
Kurze Zeit später dann erneut große Müdigkeit. Wiederum der Gedanke, dass irgendetwas beim Eingriff schief läuft. Wesentlich intensiver jetzt der Gedanke an Tod, an die Familie, von der ich nicht Abschied genommen hatte, bzw. Abschied nehmen konnte. Was soll nun werden? Etwas makaber begann diese zweite Außerkörpererfahrung: Ich stellte mir mein eigenes Begräbnis vor. Und in diesen Gedanken hinein wiederum der Ausstieg aus meinem Körper. Ich schwebte plötzlich über der eigenen Begräbnisszene. Ich habe dieses Detail später in Berichten einfach weggelassen, weil es mir einfach so unglaublich irreal erschien.
Beim Ausstieg aus meinen Körper hatte ich den Eindruck, den Körper wie einen Mantel abzulegen. Dieses Bild werde ich nie vergessen. Es hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Dieses Ablegen des „alten“, irdischen Körpers war ungeheuer befreiend. Danach war ich nicht körperlos, es war ein anderer Körper, ein geistiger Körper, die Schwere des irdischen Körpers hatte ich zurückgelassen. Zunächst auch in diesem Zustand große Verwirrung: Die Gedanken schossen mir so durch den „Kopf“. Aber es war nicht der physische Kopf, der sich mit meinem Körper ja noch auf dem Operationstisch befand. „Bist du schon tot oder was ist dies für ein Zustand?“ „Wenn dieser Bewusstseinszustand einfach so verschwindet, ist das dann der Tod?“ Dieser Zweifel wich dann aber der festen Überzeugung, dass ich weiterlebe, in welcher Form auch immer. Auch jetzt wieder dieses Gefühl der Ruhe, des In-sich-Ruhens, des Friedens. Es gab kurze Augenblicke des Gefühls, dass sich alle Probleme, Fragen, Gegensätze einfach auflösen, dass ich einfach alles verstehe, eine Art „Allwissen“ habe. Leider habe ich davon nichts behalten. Es gab aber auch fast lustige Momente: plötzlich wurde mein Schweben unstabil und es bestand die Gefahr, einfach durch die Wand zu entschwinden. Ich war regelrecht neugierig, was noch alles passieren würde. In diesem Zustand wurde meine Aufmerksamkeit auf ein Detail eines medizinischen Gerätes, nämlich eine Art Typenschild, gerichtet, das sich mir einprägte. Warum dies so interessant war, vermag ich nicht zu sagen.
Die Rückkehr in den eigenen Körper war diesmal mit einer noch größeren Kraftanstrengung verbunden als das erstemal. Ich nahm dann wiederum wahr, wie ein Druckverband angelegt wurde. Unmittelbar danach war der Eingriff beendet. Ich wurde zur Beobachtung in einen anderen Raum gebracht und später auf mein Zimmer. Ich fühlte mich wohl, nahm ein Getränk zu mir und begann zu lesen. Zwischendurch gelegentlich der Gedanke an dieses Erlebnis, was ich nicht einordnen konnte. Es wurde jedoch verdrängt durch den Eindruck und die Erwartung, dass der Eingriff erfolgreich gewesen war. Am Abend dann der Besuch des Arztes, der mir dies bestätigte. Er erwähnte aber nebenbei, dass es zweimal Komplikationen während des Eingriffs gegeben habe, nämlich zweimaliges Herzkammerflimmern. Jetzt erinnerte ich mich wiederum bewusst dieses Erlebnisses. Ich schilderte dem Arzt dies kurz, nannte ihm auch Einzelheiten des Schildes an dem Gerät, dass ich in diesem Zustand gesehen hatte. Ich wollte nur eine kurze Erklärung, vielleicht: Ja, wir kennen dieses Phänomen, es ist so und so zu erklären. Der Arzt reagierte aber nicht darauf. Später ließ er mir jedoch durch eine Schwester bestätigen, dass meine Beobachtung richtig gewesen sei. Die Schwester bestätigte mir wiederum, dass es unmöglich für den Patienten sei, dieses Schild zu sehen. Dabei blieb es. Eine Dokumentation in den Krankenakten ist nicht erfolgt.
Vielleicht sollte man dies zunächst einmal so stehen lassen. Jeder Versuch eines Betroffenen, dies Erlebnis zu erklären, gerät leicht in die Gefahr, es zu zerreden. Erlauben Sie mir dennoch einige Anmerkungen.
Ich bin also Betroffener – ein Leben lang. Das Wort „Betroffener“ (oder „Experiencer“ im Englischen) schließt ein: man ist Objekt, nicht Subjekt, nicht selbst Handelnder. Es geschieht einfach etwas mit dir; im Erlebnis selbst, aber auch später. Ich habe dieses Erlebnis lange Zeit für mich behalten. Warum sollte ich auch darüber sprechen: Es kann dies ein Außenstehender ja sowieso nicht verstehen. Also unnütze Zeitverschwendung. Aber immer wieder kam der Wunsch auf, sich damit zu beschäftigen und eine rationale Erklärung dafür zu finden. Dann irgendwann Gespräche in der Familie. Meine Frau und die jüngeren Kindern (damals ca. 15 und 16 Jahre alt) finden es interessant, können damit aber wenig anfangen. Jedoch nächtelange Gespräche darüber mit der ältesten Tochter (damals ca. 27 Jahre, verheiratet und nicht mehr zu Hause). Irgendwann durch Zufall der Kontakt mit einem Naturwissenschaftler und Mathematiker in der Erwartung, eine wissenschaftlich fundierte Erklärung dafür zu finden. Gegenüber esoterischen Deutungsversuchen war und bin ich immer noch allergisch. Ich bin an den natur- und geisteswissenschaftlichen Erklärungs- und Deutungsversuchen interessiert, aber zunehmend auch an der spirituellen Dimension des Erlebnisses.
Für mich persönlich ist ein Nahtoderlebnis heute eine tief in uns verwurzelte (vielleicht genetisch verankerte) Ahnung einer anderen Wirklichkeit, eine Ahnung des Urgrundes, aus dem wir kommen und in den wir zurückkehren, nicht im Sinne einer platonischen Seelenwanderung. Diese Ahnung findet ihren Glauben in unserer religiösen Überzeugung, sie findet ihre Indizien in wissenschaftlichen Erkenntnissen, wenn wir diesen offen und ideologiefrei gegenüber stehen und sie findet ihre Darstellung in Bildern des Unbewussten, die sich in transzendierten Vorstellungen unserer täglichen, realen, materiellen Erlebniswelt manifestieren. Nahtoderfahrungen sind für mich ein Baustein zu einem „vernünftigen Vertrauen, in eine andere Dimension hinein zu sterben.“ (Hans Küng) Ein letztes Geheimnis wird vielleicht für immer dabei bleiben.
Oder ist es doch nur eine komplexe Halluzination, gar etwas Krankhaftes, gar erste Anzeichen einer Geisteskrankheit? Aber wie erklärt sich dann meine Beobachtung, die leider nicht unmittelbar dokumentiert wurde? Wie erklären sich die Bilder in Nahtoderfahrungen, die unabhängig von religiösen und soziokulturellen Bedingungen vergleichbar sind? Ist die Vorstellung von einer unsterblichen Seele nur ein gigantischer Bluff, ein Trostpflaster im Sterben, ausgelöst von bizarren Erregungsmustern der gestressten Neuronenverbände? Wer hat dann diesen Bluff in unser Gehirn programmiert – die Evolution? Fragen, die weit über Erklärungsversuche des Nahtoderfahrungs-Phänomens hinausreichen?
Aus meiner Sicht steckt in diesen Erfahrungen eine ungeheure Sprengkraft. Diese Sprengkraft sehe ich auf drei Ebenen:
· In der Neurobiologie: Wenn es gelänge, auch nur in einem einzigen Fall extrasensorische Wahrnehmungen bei OBEs im „wissenschaftlichen Sinne“ zu beweisen, hätte die Neurobiologie mit ihren Theorien ein erhebliches Problem.
· Die Sprengkraft für die Theologie bestünde darin, dass vielleicht ein völlig neues oder zumindest verändertes Gottes- und Religionsbild am Horizont aufleuchten würde.
· Die dritte Ebene ist die der Betroffenen. Darauf will ich jetzt noch eingehen.
Was hat diese Grenzerfahrung nun bei mir bewirkt? Ganz konkret: Zunächst einmal die feste Überzeugung, dass es eine Realität gibt, die weit über das hinausgeht, was wir mit unseren Sinnen und unserem Verstand und damit vielleicht auch mit den heutigen Methoden der Wissenschaft erklären können, eine Realität, die religiösen Glaubensvorstellungen sehr nahe kommt. Es ist für mich kein „Beweis“ für das Jenseits im wissenschaftlichen Sinne. Es findet im Diesseits statt, aber es ist ein Programm, das an der Schwelle zwischen Leben und Tod abläuft. Dennoch hat es zu einer inneren und äußeren Wiederannäherung an meine Kirche (Anmerkung des Arbeitskreises Origenes: Herr Serwaty gehört der katholischen Kirche an) geführt. Es dazu geführt, dass ich stärker in der Lage bin, Emotionalität und Spiritualität zu akzeptieren. Es hat mich zu einer intensiven Beschäftigung mit dieser Thematik und natur- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen zu Grundfragen unserer Existenz geführt. Dennoch möchte ich mir eine vorsichtig kritische Einstellung insbesondere in der Deutung dieses Erlebnisses bewahren.
Dieses Erlebnis wirkt nach, es schwingt nach; in unterschiedlicher Stärke, mal nicht spürbar, mal stärker spürbar. Es stellt das Leben auf den Kopf, vielleicht nicht so sehr das äußere Leben, vielmehr das Seelenleben. Es stellt Fragen, verunsichert und dennoch vermittelt es zugleich ein Gefühl der Gelassenheit gegenüber dem was kommt. Und diese Schwingung hört erst im Tode auf, vielleicht wirkt sie aber auch darüber hinaus.
Eines ist für mich unbestreitbar: Es ist weniger ein Nah-Todeserlebnis, es ist vielmehr eine äußerst intensive Lebenserfahrung, wo immer dieses Leben auch stattfinden mag; eine intensive Lebenserfahrung, die Mut zum Leben macht – vielleicht auch angesichts des eigenen physischen Todes. Die Beschäftigung mit den letzten, oder eher vorletzten Dingen, ist spannend und macht das Leben noch lebens- und liebenswürdiger (Sabine Mehne). Aber das Paradies kann warten. Die Ewigkeit dauert noch lange genug.
Alois Serwaty